Wer schützt unsere Beschützer?

April 14, 2021

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Pflegekräfte kommen täglich mit gefährlichen Substanzen wie Zytostatika in Kontakt, die ihre Gesundheit gefährden. Das muss sich ändern – aber wie?

Während der ersten Covid-19-Welle haben wir für unsere Krankenschwestern und Krankenpfleger, unsere Ärztinnen und Ärzte geklatscht, sie als systemrelevant gefeiert und vor allem gefordert, ihre Gesundheit künftig besser zu schützen. Dieser Schutz sollte jedoch nicht nur in Zeiten der Pandemie an erster Stelle stehen!

Ein Beispiel ist der Umgang mit Zytostatika im Klinikbetrieb: Bei der Verabreichung und Zubereitung dieser hochpotenten, aber toxischen Arzneistoffe sind Pflegepersonal und Ärzte erheblichen Gesundheitsrisiken ausgesetzt.

Warum ist der Umgang mit Zytostatika für das Klinikpersonal gefährlich?

Krebspatienten erhalten Zytostatika im Rahmen einer Chemotherapie. Diese Medikamentengruppe umfasst viele unterschiedliche Wirkstoffe, die eines gemeinsam haben: Sie hemmen die Teilung und Vermehrung von Tumorzellen. Gleichzeitig richten sie sich aber auch gegen gesunde Zellen und können diese schädigen. Das betrifft vor allem schnell wachsende Gewebe wie Haut, Schleimhäute oder blutbildende Zellen im Knochenmark. Diese Wirkungen fanden Wissenschaftler schon in den 1970er Jahren heraus.1

Untersuchungen haben gezeigt, dass der Kontakt mit Zytostatika schädlich sein kann, da sie kanzerogenes, mutagenes und reproduktionstoxisches Potenzial haben.2 Im Klartext heißt das: Während der Einsatz von Zytostatika für Krebspatienten lebensrettend sein kann, ist der Umgang mit diesen Substanzen für das Pflegepersonal potenziell gefährlich. 

Welche Gesundheitsrisiken birgt der Umgang mit Zytostatika?

Krebsrisiko

Pflegekräfte, die Zytostatika herstellen oder verabreichen, haben häufiger Erbgutveränderungen; die Rate von Chromosomenaberrationen war in einer Studie 9-mal höher als bei Menschen, die keinen Umgang mit Zytostatika hatten.3 Weitere Untersuchungen ergaben sowohl bei Pflegekräften wie auch bei Ärzten ein erhöhtes Leukämierisiko 4,5 und eine signifikant höhere Wahrscheinlichkeit für eine spätere Krebsdiagnose.6

Schwangerschaftskomplikationen

Für weibliche Pflegekräfte birgt der Umgang mit Zytostatika reproduktionstoxische Gefahren: Dazu zählen ein erhöhtes Risiko für Unfruchtbarkeit, Fehlbildungen, Fehl- und Totgeburten sowie ein erniedrigtes Geburtsgewicht bei Neugeborenen.7,8,9 Auch weisen Kinder von Frauen, die in der Schwangerschaft Kontakt mit Zytostatika hatten, im späteren Leben häufiger Lernbehinderungen auf.10

Diese Gesundheitsrisiken betreffen alleine in Deutschland mehrere tausend Pflegekräfte und Ärzte, die im Bereich Onkologie arbeiten. Im Schnitt verabreicht eine Pflegekraft in onkologischen Einrichtungen pro Tag 6-7 Dosen Zytostatika, das summiert sich auf mehr als 100 Dosen pro Monat.11

Angesichts dieser Exposition ist es nicht verwunderlich, dass Zytostatika auch im Blut und Urin von Pflegepersonal nachweisbar sind.12 Studien zufolge können Zytostatika akute Gesundheitsprobleme wie Haarausfall, Kopfschmerzen, Hautausschläge oder allergische Reaktionen verursachen, aber auch langfristige Gewebeschäden infolge von Erbgutveränderungen.13,14

Wie kommt es zu einer Kontamination?

Es gibt mehrere Möglichkeiten, wie sich Pflegekräfte mit Zytostatika kontaminieren können. Zum einen kann es passieren, dass bei der Zubereitung und Verabreichung unbeabsichtigt kleine Mengen des Medikaments austreten, mit der Haut in Berührung kommen und auf diesem Weg in den Organismus gelangen. Zum anderen können Partikel des Präparates verdampfen und über die Luft in die Atemwege geraten.15 Doch auch ohne direkten Kontakt kann das toxische Medikament in den Organismus kommen, zum Beispiel über kontaminierte Kleidungsstücke, Handschuhe oder Oberflächen.16 Forscher fanden heraus, dass auf diese Weise sogar Personal kontaminiert wurde, das gar nicht selbst mit Zytostatika gearbeitet hat.17

Wie werden Pflegekräfte aktuell geschützt?

Die Europäische Union hat Richtlinien für den Umgang mit zytotoxischen und anderen Gefahrstoffen formuliert. Sie benennen Vorsichtsmaßnahmen für die Zubereitung von gefährlichen Medikamenten wie Zytostatika, etwa die Verwendung von Schutzkleidung oder die Anwendung in geschlossenen Räumen.

Zu den effektivsten Schutzmaßnahmen gehört es, den Kontakt mit Zytostatika zu vermeiden. Möglich ist dies mit Closed-System Transfer Devices (Geschlossene Systeme für Medikamententransfer) – das sind Spezialvorrichtungen, die das Austreten von Zytostatika bei deren Vorbereitung und Verabreichung verhindern.18 

Problematisch ist, dass die Richtlinien nicht konsequent beachtet werden. Die Schutzmaßnahmen werden in der Praxis immer wieder umgangen oder vernachlässigt; oft wird ungenügende Schutzkleidung getragen.19 Studien belegen zudem, dass trotz bestehender Richtlinien Zytostatika-Kontaminationen auf Flächen, Materialien und in der Luft auftreten.20

Für die geschlossenen Spezialsysteme (CSTDs) liegt das Problem in den Richtlinien selbst. Auch wenn die Verwendung von CSTDs in Deutschland vorgegeben ist, fehlen aktuell klare Definitionen, Testverfahren und verbindliche Grenzwerte.18 Ohne diese Voraussetzungen sind Richtlinien zu CSTDs nur schwer durchsetzbar – zum Leid unserer Pflegekräfte.

Wie können wir unsere Beschützer schützen?

1. Mehr ausgebildetes Personal: Die besten Sicherheitsrichtlinien bewirken wenig, wenn das Personal nicht die Kapazität hat, sie umzusetzen. Pflegekräftemangel und die steigende Arbeitsbelastung sind wichtige Faktoren, wenn es darum geht, die Arbeitssicherheit langfristig zu verbessern.

2. Klare Definitionen und Grenzwerte in den Richtlinien: Die USA machen es uns vor: Bereits knapp die Hälfte der US-Staaten hat CSTDs klar definiert und ihren Einsatz bei der Arbeit mit Zytostatika verpflichtend vorgeschrieben.18 Auch in Europa müssten die Richtlinien konkretisiert werden, um den Gesundheitsschutz unserer Pflegekräfte zu gewährleisten.

3. Investition in technische Lösungen: Vorgaben hin oder her – wer seine Mitarbeiter schützen will, muss bereit sein, in technische Lösungen wie CSTDs zu investieren. Ob mit oder ohne Richtlinien haben Hersteller von Zytostatika, leitende Mitarbeiter in Krebszentren und Praxen eine ethische Verantwortung, die Gesundheit ihrer Mitarbeiter sicherzustellen.

Entscheidungsträger im Gesundheitswesen haben die Gesundheit unserer Beschützer in der Hand. Es ist Zeit zu handeln!

EXPERTE

Niko Gabrielides – Direktor Business Development​

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Quellen:

 

1 Pan American Health Organization , Safe handling chemotherapy drugs in limited resources settings, 2013

2 Michael Koller, Zytostatika-Belastung des klinischen Personals durch stationäre Krebspatienten, 2019

3 McDiarmid MA et al., Chromosome 5 and 7 abnormalities in oncology personnel handling anticancer drugs, J Occup Environ Med, 2010; 52:1028–1034

4 Skov T et al., Risk for physicians handling antineoplastic drugs [letter to the editor], The Lancet, 1990; 336:1446

5 Skov T et al., Leukaemia and reproductiveoutcome among nurses handling antineoplastic drugs. Br J Ind Med, 1992; 49:855–61

6 Martin S., Chemotherapy handling and effects among nurses and their offspring, Oncol Nurs Forum, 2005; 32:425

Food and Drug Administration, FDA approved drugs

8 Dranitsaris G et al. Are health care providers who work with cancer drugs at an increased risk for toxic events? A systematic review and meta-analysis of the literature, J Oncol Pharm Pract, 2005;11:69–78

9 Valanis B, Vollmer WM, Steele P., Occupational exposure to antineoplastic agents: self-reported miscarriages and stillbirths among nurses and pharmacists, J Occup Environ Med 1999; 41:632–638

10 Martin S., Chemotherapy handling and effects among nurses and their offspring, Oncol Nurs Forum, 2005; 32:425

11 EBSCO, Factors Influencing Oncology Nurses‘ Use of Hazardous Drug Safe-Handling Precautions, 2012

12 Falck K et al., Mutagenicity in urine of nurses handling cytostatic drugs, The Lancet, 1979; 1:1250–51

13 Baykal U, Seren S, Sokmen S. 2009, A description of oncology nurses’ working conditions in Turkey, European Journal of Oncology Nursing, 13(5):368–75

14 Constantinidis TC et al., Occupational health and safety of personnel handling chemotherapeutic agents in Greek hospitals, European Journal of Cancer Care, 2011; 20(1):123–31

15 Mason HJ et al., Exposure to antineoplastic drugs in two UK hospital pharmacy units, Annals of Occupational Hygiene, 2005; 49:603–10

16 National Institute of Occupational Safety and Health, NIOSH alert: preventing occupational exposures to antineoplastic and other hazardous drugs in health care settings. 2004; DHHS (NIOSH) Publication No. 2004-165

17 Pethran A et al., Uptake of antineoplastic agents in pharmacy and hospital personnel; part 1: monitoring of urinary concentrations, Int Arch Occup Environ Health, 2003; 76:5–10

18 European Bio Safety Network, Preventing occupational exposure to cytotoxic and other hazardous drugs, 2016. 

19 Occupational Safety and Health Administration, Controlling Occupational Exposure to Hazardous Drugs, 2016

20 Wick C et al., Using a closed-system protective device to reduce personnel exposure to antineoplastic agents, Am J Health-Syst Pharm, 2003; 60:2314–20